Materialistischer Antirassismus
Rassismus und Kapitalismus

Rassismus weist Dynamiken und Logiken auf, die sich nicht alleine aus der kapitalistischen Ökonomie erklären lassen. Zudem gab es ihn erwiesenermassen schon vor dem Kapitalismus. Aber in seinen jetzigen Ausprägungen können wir Rassismus nur verstehen, wenn wir seine Rolle in der Klassenherrschaft betrachten. Die kapitalistische Gesellschaft braucht Rassismus, er erfüllt zentrale Funktionen in ihr. Rassismus ist ein Herrschaftssystem das Hierarchien reproduziert, die für den Kapitalismus unerlässlich sind. Rassismus ist also eng mit kapitalistischer Ausbeutung verbunden. Das heisst nicht, dass Rassismus mit der Abschaffung des Kapitalismus automatisch verschwindet, aber es heisst, dass Rassismus innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft nicht verschwinden kann.

Rassismus stützt und legitimiert Kolonialismus und Neokolonialismus, alte und neue Sklaverei, Repression, das Migrationsregime, imperialistische Kriege, Überausbeutung, die Aushebelung von Arbeitsrechten. Proletarier:innen werden mit rassistischen Zuordnungen markiert, was ihre soziale Position festschreibt. Die rassistische Hierarchisierung der Gesellschaft sichert Teilen der Arbeiter:innenklasse gewisse Privilegien zu, welche diese dann im Verbund mit rechten Verbänden verteidigen. So spielt Rassismus verschiedene Personengruppen innerhalb der Weltarbeiter:innenklasse gegeneinander aus und sabotiert die Klassensolidarität. Rassismus spielt auch eine Schlüsselrolle in der Ideologie der nationalen Gemeinschaft, die dem Kapitalismus wertvolle Dienste leistet: Wann immer die nationale Einheit beschworen wird, wie das in Kriegs- und Krisensituationen zuverlässig geschieht, gehört dazu die rassistische Abwertung der «Anderen», seien diese innerhalb oder ausserhalb der Staatsgrenzen. Den bürgerlichen Staat begreifen wir als eine unvermeidlich rassistische Institution, darum ist auch bei antirassistischen Kämpfen eine klare Bruchposition zum Staat wichtig.

Rassistische Machtsysteme und Denkmuster sind historisch wandelbar: Rassismus ist keine überhistorische Neigung weisser Menschen, sondern erfüllt hierarchisierende Funktionen in spezifischen sozialen Anordnungen. Das zeigt sich zum Beispiel daran, dass in der Geschichte unterschiedliche Menschengruppen rassifiziert wurden. Wir müssen die verschiedenen Formen von Rassismus also immer aus der jeweiligen geschichtlichen Lage und aus den Klassenverhältnissen heraus begreifen. Wenn wir Rassismus materialistisch analysieren, sehen wir, dass er mehr ist als bloss ein falsches Bewusstsein, nämlich ein institutionell und ökonomisch verankertes Herrschaftsverhältnis. Eine wirksame antirassistische Strategie beschränkt sich somit nicht auf Aufklärungsarbeit, sondern fällt zusammen mit dem Kampf für eine revolutionäre Umwälzung der Gesellschaft.

Da Rassismus eines der wichtigsten Machtinstrumente der Klassenherrschaft ist, nimmt der Antirassismus eine zentrale Funktion im Klassenkampf ein. Antirassismus ist nicht nur moralisch richtig, sondern er hat revolutionäre Sprengkraft und ist unverzichtbar. Vieles, was auf den ersten Blick als rein symbolische «Identitätspolitik» erscheinen mag, zeigt sich bei näherem Hinsehen als Element des Klassenkampfs: Die Klasse wehrt sich gegen rassistische Unterdrückung. Dazu gehören selbstverständlich auch Kämpfe um Sprache, Repräsentation und Anerkennung. Gleichzeitig halten wir bei antirassistischer Politik eine Klassenposition für zielführend, weil sie dem Antirassismus eine politische Spitze und Schlagkraft gibt. Die Klassenposition verhindert, dass Antirassismus in einer frustrierenden Moralpolitik steckenbleibt oder sich in liberalen Diversity-Programmen verflüchtigt. Aus diesem Grund bemühen wir uns, in antirassistischen Projekten eine klassenkämpferische Perspektive anzuregen.

Alltagsrassismus, Selbstreflexion und der gemeinsame Kampf

Eine Methode antirassistischer Praxis ist die individuelle Reflexion, die Nennung vielfältiger Privilegien von Weissen (white privilege) und die Auseinandersetzung mit weissen Verhaltensmustern, die Kritik abwehren und damit den Alltagsrassismus erhalten (white fragility, gaslighting). Da auf diese Weise der Rassismus eher beschrieben, als dass seine Funktion in der kapitalistischen Unterdrückungs- und Verwertungslogik erklärt wird, sind sie nicht in jeder Hinsicht ergiebig. Dennoch liefern uns diese Methoden wertvolle Werkzeuge, um Rassismus in unserem Alltag und in unserem Denken zu erkennen und zu bekämpfen. Dies ist auch eine wichtige Voraussetzung dafür, dass von Rassismus betroffene und nichtbetroffene Menschen einen gemeinsamen Kampf führen können.

Der antirassistische Kampf geht uns alle an. Er ist eine gemeinsame Sache aller proletarischen und emanzipatorischen Kräfte. Nur im gemeinsamen Kampf kann Rassismus als gesellschaftliches Verhältnis aufgehoben werden. Dennoch macht es einen wichtigen Unterschied, ob Kämpfende selbst von Rassismus betroffen sind oder nicht. In der Geschichte der antirassistischen Befreiung hat die Selbstorganisierung rassifizierter Menschen immer wieder eine Schlüsselrolle eingenommen und wird dies auch in Zukunft tun. Wo Betroffene und Nichtbetroffene gemeinsam kämpfen, haben die Nichtbetroffenen die Verantwortung, sich zum Thema Rassismus zu schulen und ihren Mitmenschen gegen den Alltagsrassismus zur Seite zu stehen.